Das weibliche autonome Nervensystem – und warum wir es neu verstehen dürfen
- Andrea Kampermann
- 16. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Juni

Wie sich das weibliche autonome Nervensystem vom männlichen unterscheidet – und was das für den Umgang mit Stress und Trauma bedeutet
Das autonome Nervensystem (ANS) steuert all jene Körperfunktionen, die außerhalb unseres bewussten Zugriffs liegen – Herzschlag, Atmung, Verdauung, Hormonausschüttung, Reaktionen auf Stress. Lange galt das ANS als geschlechtsneutral – universell, gleich, mechanisch.
Doch moderne neurobiologische Forschung zeigt: Es gibt signifikante Unterschiede zwischen dem weiblichen und männlichen autonomen Nervensystem.
Diese Unterschiede beeinflussen, wie Stress erlebt, wie Trauma verarbeitet und wie Heilung möglich wird. Zeit, genauer hinzuschauen.
Was ist das autonome Nervensystem überhaupt?
Das ANS ist in zwei Hauptzweige unterteilt:
Sympathikus: Aktiviert den Körper in Stresssituationen („Fight or Flight“)
Parasympathikus: Dient der Regeneration und Beruhigung („Rest and Digest“)
Diese beiden Systeme arbeiten dynamisch zusammen – im Idealfall in einem ständigen, lebendigen Wechselspiel.
Doch unser Lebensstil, hormonelle Veränderungen oder unverarbeitete Erfahrungen können dieses Gleichgewicht empfindlich stören.
Warum das weibliche autonome Nervensystem anders reagiert
Frauen durchlaufen im Laufe ihres Lebens tiefgreifende hormonelle Veränderungen: Zyklusphasen, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Wechseljahre. Diese Ereignisse sind nicht nur hormonelle, sondern auch neurobiologische Übergänge, die das autonome Nervensystem maßgeblich beeinflussen.
Einige wichtige Unterschiede:
Hormonelle Modulation: Östrogen und Progesteron wirken direkt auf das Nervensystem. Sie beeinflussen, wie sensibel wir auf Stress reagieren und wie schnell wir in die Regulation zurückfinden.
Andere Stressreaktionen: Während bei Männern die klassische „Fight or Flight“-Reaktion dominiert, zeigen Frauen – evolutionsbiologisch betrachtet – häufiger die Strategie „Tend and Befriend“ (Pflegen und Verbinden). Das bedeutet: In Stresssituationen suchen viele Frauen eher Verbindung als Rückzug oder Angriff.
Höhere Vagusnerv-Aktivität: Der Vagusnerv, der für Entspannung und soziale Bindung zuständig ist, zeigt bei Frauen eine höhere Grundaktivität. Dies macht sie empfänglicher für soziale Regulation, aber auch sensibler gegenüber zwischenmenschlichem Stress.
Trauma: Ein weibliches autonomes Nervensystem vergisst nicht
Traumatische Erfahrungen – insbesondere solche, die mit Beziehung, Körper oder sozialem Ausschluss zu tun haben – hinterlassen tiefere Spuren im weiblichen autonomen Nervensystem.
Das liegt unter anderem daran, dass Frauen häufig mit „frozen states“ (Erstarrung, Unterwerfung, Dissoziation) reagieren – eine Überlebensstrategie, die im Nervensystem lange gespeichert bleiben kann.
Zudem zeigen Studien, dass Frauen häufiger unter posttraumatischer Belastung, chronischer Erschöpfung oder autoimmunen Erkrankungen leiden – häufig Folge eines chronisch überlasteten autonomen Nervensystems.
Was bedeutet das für Heilung und Stressregulation bei Frauen?
Zyklische Rhythmen ernst nehmen: Das weibliche Nervensystem ist nicht linear – es lebt in Zyklen. Stressbewältigung muss die hormonellen und emotionalen Phasen im Monatszyklus mit einbeziehen.
Somatische Regulation über Verbindung: Soziale Sicherheit, Co-Regulation (z. B. über Stimme, Blickkontakt, Berührung) und vertrauensvolle Beziehungen sind für das weibliche Nervensystem besonders wirksam, um aus Stresszuständen wieder in die Ruhe zu finden.
Traumasensible Begleitung: Bei der Verarbeitung von Trauma ist es wichtig, weibliche Überlebensstrategien (z. B. Erstarrung, Anpassung, People-Pleasing) zu erkennen und behutsam zu integrieren.
Vagusnerv aktivieren: Übungen zur Vagusnerv-Stimulation (z. B. summen, singen, schaukeln, sanfte Atemarbeit) helfen dem weiblichen System, wieder Sicherheit zu empfinden.
Fazit: Weibliche Stresskompetenz ist körperlich – nicht nur mental
Die Annahme, dass Stress rein psychisch bewältigt werden kann, greift zu kurz – besonders für Frauen.
Ihr autonomes Nervensystem folgt eigenen Regeln, Rhythmen und Schutzstrategien. Wer das versteht, kann individuellere, zyklusorientierte und traumasensible Wege finden, um wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen.
Es ist Zeit, das weibliche Nervensystem nicht nur mitzudenken – sondern ins Zentrum ganzheitlicher Gesundheit zu stellen.
Comments